Im Siesmayersaal des Frankfurter Palmengartens berichtete Dr. Tilman Lenssen-Erz von der Forschungsstelle Afrika der Universität zu Köln über ein einzigartiges archäologisches Experiment. Sein spannender Vortrag nahm die Zuhörer mit auf eine Expeditionsreise, die er und Dr. Andreas Pastoors vom Neanderthal Museum in Mettmann in die Pyrenäenhöhlen unternommen haben. Drei San, namibische Buschleute, begleiteten sie um die prähistorischen Fußspuren in den eiszeitlichen Bilderhöhlen in Frankreich zu interpretieren. Ziel war es, mit Hilfe der speziellen Wahrnehmungsfähigkeiten der Fährtenleser mehr über den Kontext der Felskunst und über die Lebensumstände vor 17.000 Jahren zu erfahren. Die bisherigen Analysemethoden, insbesondere Messungen, lieferten zwar genaue Beschreibungen der Spuren, jedoch nichts darüber hinaus. Obwohl die Wissenschaft eine Menge sieht, so Lenssen-Erz, versteht sie vieles nicht.
Die Jäger der Ju/hoansi-San gelten als die besten Fährtenleser der Welt und können viel über die Menschen und Tiere aussagen, die diese Spuren hinterlassen haben. Sie sagen, dass ein Jäger sich in das Tier hineinversetzen, es spüren muss, um es erfolgreich zu jagen. Nicht nur die Spezies, Geschlecht und Alter können sie aus den Spuren ablesen, sondern auch das Individuum, die Bewegungsart und -weise und vieles mehr wie Verhalten, Körperhaltung, Alter der Spur, und sie erkennen auch Spurüberlagerungen. Darüber hinaus sehen sie Belastungen wie Gewicht, Behinderungen oder Krankheit. Das Spurenlesen war immer eine existenzielle Grundlage ihrer Lebensweise. Daneben müssen die Buschleute auch über zoologisches und weiteres Detailwissen (Verhalten der Tiere, saisonale Veränderungen, Ernährung, Bodenkunde, Ortskenntnisse, Klima) verfügen und einen absoluten Orientierungssinn besitzen.
Was also lag näher als ein Fährtenleser-Team der San einzubeziehen, um die Spuren vorzeitlicher Jäger zu entschlüsseln?
Nach einer Vorbereitungszeit in Namibia ging es ins eigentliche Arbeitsgebiet - die Pyrenäen. Dort gibt es rund 350 franko-kantabrische Höhlen mit eiszeitlicher Felskunst, zehn davon mit menschlichen Spuren.
Zur Veranschaulichung der Lebensumstände von früher diente unter anderem der Besuch des Neanderthal Museums, eines Schneegebietes und eines Zoos mit Braunbären als Beispiel für die damaligen Höhlenbären.
Dann wurden vier Höhlen besucht, und besonders interessant war Tuc d´Andoubert im Département Ariège mit 17.000 Jahre alten Bisonskulpturen aus Lehm. Die Abdrücke im Salle de Talons (Saal der Fersen) hatte man für einen rituellen Tanz gehalten. Die San jedoch kamen zu einem anderen Ergebnis: Es sind die Spuren von zwei Personen, eines ca. 38-jährigen Mannes und eines etwa 14-jährigen Jungen, die beide den Weg zweimal gegangen sind um etwas - in diesem Falle Lehm - von A nach B zu tragen. Unbeantwortet blieb allerdings die Frage, warum sie auf den Fersen gegangen sind.
Die San entdeckten auch bislang unbekannte Abdrücke wie die von unbekleideten Knien. Zusammen mit einer barfüßigen Spur führte das zur Erkenntnis, dass damals weder Schuhe noch (lange) Beinkleider getragen worden waren. Auch eine Art demographischer Daten konnten die San liefern und zwar über das Geschlecht und das Alter der Personen, nämlich zwischen 3 und 60 Jahren. Die Daten sind zwar wenig belastbar, aber immerhin mehr Information als zuvor.
Dieses Experiment wurde über die gesamte Zeit von fünf Wochen von einem Fernsehteam begleitet und dokumentiert. Der Film "Footprints into the Past" ("Fußspuren in die Vergangenheit" in Zusammenarbeit mit ARTE) wurde auch in Namibia und Botswana in den Dörfern gezeigt. Das Besondere an dieser Rundreise war, dass die drei San zu Botschaftern ihrer Kultur wurden, insbesondere für die Buschleute, die aufgrund des Jagdverbotes dem Wissen der Ahnen und ihrer eigenen Kultur entfremdet wurden.
Nur im Gebiet um Tsumkwe, einer Siedlung am Rande der Kalahari, können die San noch traditionell jagen. Überall sonst ist das Jagen verboten. Daher gibt es auch Überlegungen, San aus anderen Gebieten dorthin einzuladen, damit sie ihre ursprüngliche Lebensweise wiederentdecken können.
Ein letztes Element des Tracking-in-Caves-Projektes war eine Konferenz, die im Mai 2017 im Neanderthal Museum stattfand. Hier stellten Fährtenleser aus verschiedenen Kontinenten in Vorträgen und Workshops ihre Arbeiten vor und konnten sich mit den anderen austauschen.
Das Tracking-in-Caves-Projekt war so erfolgreich, dass es fortgesetzt werden soll. So sind Nachfolgeprojekte, die die Felskunst bei Twyfelfontein in Namibia oder die Pirschjagd dokumentieren sollen, geplant.